Die eigene Erinnerung trage ich allein
ERINNERST DU DICH?
Warum, wann, woran?
Das Drama der Erinnerung ist, wir Menschen leben von ihr, sogar aus ihr und müssen uns darauf vertrauensvoll verlassen können. Doch gleichzeitig sollten wir ihr sehr misstrauisch gegenüberstehen, wenn sie uns begegnet. Und mit dem nächsten Schritt schließt sich der Teufelskreislauf. Denn je häufiger ich das Misstrauen zulasse und bestätigt bekomme, um so seltener werde ich beim nächsten Mal der Erinnerung über den Weg trauen. Meiner eigenen Erinnerung genauso wenig, wie Deiner. Das ist widerum auch kein Lösung, denn ich benötige die Erinnerung für den Schritt in meinem Leben.
Über ganz viele Jahre, Jahrzehnte erzählte ich gerne von meiner Zeit als Konfirmand in zwei Kirchengemeinden Norddeutschlands. Die Erinnerungen daran sind eher mager und wenig erfreulich, aber auch nicht sonderlich bedrückend. Und dann nach zwei Jahren zur Konfirmation - so sagte meine Erinnerung bis zu meinem 61ten Lebensjahr: Den knuffigen Konfirmationsspruch, den ich mir irgendwie gewünscht hatte, fand ich auf der Urkunde zur Konfirmation gar nicht vor. - Diese UrKunde versackte dann ganz schnell im Papier-Archiv der Familie, reiste von einem Wohnort der Eltern zum anderen mit. - es gab dann über zehn Jahre später zwar einen Kirchenbuch-Auszug und dort stand ganz lapidar "Ps.50,15" also genau der wunschgemäße Text von damals, aber damals bei der Einsegnng und auf der Urkunde...
Und dann verstarb als letzte der Eltern die Mutter und in ihrem altersbedingt immer weniger werdenden Nachlass fanden die Geschwister auch Papiere aus meiner Schulzeit und darin auch diese Konfirmationsurkunde. Auf diesem Papier war in verblasster Tinten-Handschrift zu lesen "Rufe mich an der Not, so will ich Dich erretten. Ps.50, 15"
Fünf Jahre habe ich beim Amtsgericht einer Großstadt als Hauptschöffe jeden Monat einen Gerichtstag miterleben dürfen. Welche Erinnerungen sich allein in den Zeugenaussagen darstellte und gar nicht so selten gar nicht in Einklang zu bringen war mit dem, was vorher oder hinterher andere Prozess-Beteiligten zur Protokoll gaben,das ließ mich manches Mal innerlich zweifeln, wie wir als Gericht dahinein eine Plausibilität bringen könnte.
Wie tief Erinnerungen sich bei Dir oder mir einbrennen, das ist keine Frage des guten oder schlechten Gedächtnisses. sondern der zum aktuellen Geschehen gehörenden Bilder - oder noch besser dem wahrnehmen mit möglichst vielen Sinnen.
Dazu fallen mir (mehr als) zwei Beispiele ein: Einer meiner damals noch jungen Kollegen erwähnte bei genau dem richtigen Augenblick "Soll ich Euch was sagen? ich habe jetzt wieder den Duft von Leberwurst in der Nase!" Die Situation war überhaupt nicht mit Leberwurst in Verbindung zu bringen, sondern es war 23 Uhr, wir hatten eine der entsetzlich langen Verwaltungssitzungen hinter uns gebracht und irgendeiner hatte vorgeschlagen, noch eben das Abendlied zu singen "Der Mond ist aufgegangen!" von Matthias Claudius (Hörbeispiel bei YouTube). Und dann musste er das erzählen - ganz am Anfang dieser Erinnerug steht ein Lagerfeuer in der Pfadfindergruppe, als er 15 Jahre alt war, dazu gehörte in der Erinnerung auch immer die Gitarre, die irgendjemand damals spielte.
Es gibt aber auch die Erinnerungen, die einfach nicht aus der tiefen Niesche herauskommen wollen. Vor wenigen Wochen hielte ich mich zum zweiten Mal in meinem Leben überhaupt in der kleinen Kreisstadt am Westharz Osterode auf; Ich registrierte die Veränderungen nach knapp 30 Jahren und staunte über neue Eindrücke, und und -- aber die Erinnerung an eine "Tante Gundel" kam in mir so gar nicht in den Sinn. Dann erzählte ich Geschwisterkreis von unserem kleinen Tagesausflug in die Stadt und der Name fiel, dazu der komplette Name dieser zu unserer Kinderzeit scheinbar schon älteren Frau mit einem Spitzterrier,... meine Geschwister brachten ein Stichwort zum anderen und ich kann keine Erinnerung in mir finden. Trotzdem haben mich jetzt diese Stichworte so im Griff, dass das mir erzählte schon als meine Erinnerung sein könnte. Diese Frau soll bei uns in der Familie mehrmals zu Gast gewesen sein,... Für mein Erinnern wurden damals offenbar keine markanten Pflöcke bereit gestellt, die Person blieb offenbar für mich ohne einen konkreten Bezug. - Doch es geht uns in der Geschwisterrunde erkennbar allen so. Das Erinnern an bestimmte Personen ist entweder nur trüb vorhanden oder sehr klar und wach - bei jedem anders.
Und wer sich in sich selbst umsieht, dem wird es genau so gehen, wie uns: Zur Erinnerung an gehört ein nachdrückliches selbsterfahrenes Erlebnis. Wieviele der unendlichen Erinnerungsgeschichten am Kaffee-Tisch zum Geburtstag beginnen mit Sitzen wie etwa dieser "Weiß Du noch, damals bei Hochzeit von Egon, als seiner Schwägerin, wie hieß die doch gleich?, die Haarspange in die Hochzeitstorte plumpste? - Wie lange ist das eigentlich schon her? - wann war die erste Hochzeit von Egon, weiß das noch einer?" - Dann beginnen sich die Erinnerungsfragmente der vielen Einzelnen für einen Momant zu einem großen kollektiven Gedächtnis*) zu vermengen.
In plötzlichen unvorbereiteten Wiederbegegnungen nach viel zu vielen Jahren wird die Stärke oder auch die Schwäche des Erinnerns selbst für die Nichtbetroffenen leicht spürbar. Neben einigen solcher Begegnungen ist mir mit am stärksten haften geblieben die Fahrt mit der hannoverschen Straßenbahn um 1985. (Diese Begebenheit muss ich noch aufschreiben)
(siehe auch in "Wenn ein Taufstein erzählen könnte")
*) Exkurs: Die sogenannte "Weihnachtsgeschichte" der Bibel von Lukas (Lk.2) übernimmt genau diesen Mechanismus des sich kollektiven Erinnerns: Die Zuhörenden/Lesenden kennen damals die geschilderten Aspekte schon längst nicht mehr aus eigenem Erleben oder Wahrnehmen, sondern nur vom vielseitigen Hören-Sagen. Und der Literat Lukas will darum auch gar nicht an die zusammengewürfelten historischen Ereignisse erinnern (zumal sie auch überhaupt zusammen passen!), Doch die Leser des Berichtetes bekommen einen Schauder der Erinnernung geliefert. Da reichen Namen aus und alle schlagen die Hände vor den Kopf. - Wie dieses imaginäre Erinnern sich aktuell kollektiv und individuell abspielt, lässt sich an Stichworten wie "II.Weltkrieg" oder "Mondlandung" erfahren. Nur etwa die Hälfte (bis hin zu etwa nur 20%) dürften sich auf eigene Wahrnehmungen berufen können und doch werden Erinnerungen geschildert.
Die eigene Erinnerung
muss man allein tragen
Für angenehme
Erinnerungen muss
man im Voraus sorgen.
Warum können wir uns
an die kleinste Einzelheit
eines Erlebnisses erinnern,
aber nicht daran,
wie oft wir es
ein und derselben Person
erzählt haben?
Sammlung "Geh Danken" - (C) Christel Pruessner, Dersenow 2013