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    gebratene Ameise - Wunschring - Kuddel-Muddel

     


    Die gebratene Ameise

    Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte:
    Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tage feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist.
    Die Ameisen glauben, dass durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der Fleißigsten auf die Essenden übergehe.
    Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tage gebraten und verspeist zu werden.
    Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, dass eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt:
    „Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, dass Ihr mich so ehren wollt!
    Ich muss Euch aber gestehen, dass es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich totzuschuften!"
    „Wozu denn?" schrien die Ameisen ihres Stammes — und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne — sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet.

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    Kuddel— Muddel

    oder Die vielen Rosinen

     Sie hatten alle sehr viele Rosinen im Kopfe, und so kamen sie in hellen Haufen auf dem Kapitol der Unternehmungslust zusammen. Und auf dem Kapitol zeigten sie sich gegenseitig ihre vielen Rosinen —  in denen stak alles das, was sie wollten. Sie wollten alle mal ergründen, worin der eigentliche Hauptwert des Lebens und der Kunst zu erblicken sei. Und während sie nun immer heftiger all die vielen Hauptwerte ergründeten, wurden ihre Reden immer verworrener —  so daß schließlich ein großes Kuddel-Muddel entstand —  nicht bloß in den vielen Hauptwerten und Reden, sondern auch in den vielen Köpfen und Rosinen. Und es ward plötzlich unheimlich still auf dem Kapitol. Aber nach einiger Zeit hörte man in einer Kapitolsecke ein gemütliches Gelächter, und es sprach einer, dem nie was klar geworden, da er stets die größten Rosinen im Kopf gehabt hatte: „Meine Herrschaften! Wenn uns auch der Witz ausgeht, lachen können wir trotzdem immer noch! Also: lachen wir über das entzückende Kuddel- Muddel dieser entzückenden Rosinenwelt!“ Da mussten sie alle so welterschütternd lachen, dass sogar das Kapitol der Unternehmungslust in seinen Grundfesten erbebte.

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    Der Wunschring

     Ein junger Bauer, mit dem es in der Wirtschaft nicht recht vor­wärts gehen wollte, saß auf seinem Pfluge und ruhte einen Augen­blick aus, um sich den Schweiß vom Angesichte zu wischen. Da kam eine alte Hexe vorbeigeschlichen und rief ihm zu: »Was plagst du dich und bringst's doch zu nichts? Geh zwei Tage lang gerade­aus, bis du an eine große Tanne kommst, die frei im Walde steht und alle anderen Bäume überragt. Wenn du sie umschlägst, ist dein Glück gemacht.«

    Der Bauer ließ sich das nicht zweimal sagen, nahm sein Beil und machte sich auf den Weg. Nach zwei Tagen fand er die Tanne. Er ging sofort daran, sie zu fällen, und in dem Augenblick, wo sie umstürzte und mit Gewalt auf den Boden schlug, fiel aus ihrem höchsten Wipfel ein Nest mit zwei Eiern heraus. Die Eier rollten auf den Boden und zerbrachen, und wie sie zerbrachen, kam aus dem einen Ei ein junger Adler heraus, und aus dem ändern fiel ein kleiner goldner Ring. Der Adler wuchs zusehends, bis er wohl halbe Manneshöhe hatte, schüttelte seine Flügel, als wollte er sie probieren, erhob sich etwas über die Erde und rief dann:

     »Du hast mich erlöst! Nimm zum Dank den Ring, der in dem anderen Ei gewesen ist. Es ist ein Wunschring. Wenn du ihn am Finger umdrehst und dabei einen Wunsch aussprichst, wird er als­bald in Erfüllung gehen. Aber es ist nur ein einziger Wunsch im Ring. Ist er getan, so hat der Ring alle weitere Kraft verloren und ist nur wie ein gewöhnlicher Ring. Darum überlege dir wohl, was du dir wünschst, auf daß es dich nicht nachher gereue.«

     Darauf erhob sich der Adler hoch in die Luft, schwebte lange noch in großen Kreisen über dem Haupte des Bauers und schoß dann wie ein Pfeil nach Morgen.

    Der Bauer nahm den Ring, steckte ihn an den Finger und begab sich auf den Heimweg. Als es Abend war, langte er in einer Stadt an; da stand der Goldschmied im Laden und hatte viel kostliche Ringe feil. Da zeigte ihm der Bauer seinen Ring und fragte ihn, was er wohl wert wäre. »Einen Pappenstiel!« versetzte der Gold­schmied. Da lachte der Bauer laut auf und erzählte ihm, daß es ein Wunschring sei und mehr wert als alle Ringe zusammen, die jener

     

     

     

    (alles von: Paul Karl Wilhelm Scheerbart? - um 1915?)

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