Kursbuch ade! - Eine Reise aus dem Kursbuch!

Wie, Du hast ein Kursbuch? Und was steht da alles drin?“ So wurde ich zuletzt vor einem Jahr angesprochen, „da würde ich nie durchsteigen! - ich wüsste gar nicht, wo ich da anfangen sollte!“ Und wenn er mit dem Zug fährt, wie geht er dann vor, per Internet, oder per Telefon? „Ehrlich gesagt, wenn es irgend geht, fahre ich besser gleich mit dem Auto, denn hier bei uns im Ort gibt schon lange keinen Schalter mehr, so wie früher, wenn meine Eltern mit uns verreisten. Da ging dann mein Vater zum Bahnhof, der Mann hinter der Glasscheibe holte ein dickes Buch hervor und blätterte vor und zurück, sprach seltsame Worte aus und am Schluss hatte mein Vater dann einen vorgedruckten Zettel in der Hand, auf dem handschriftlich Ortsnamen und Zahlen, die Uhrzeiten geschrieben waren. - Einmal hat das fast eine halbe Stunde gedauert, so kompliziert war.“

Mein erstes komplettes Kursbuch kaufte ich mir während des Studiums, weil ich damit am leichtesten die Fahrten von den Praktikumsorten nach Hause organisieren konnte. Fahrpläne waren schon früh meine Leidenschaft, ihnen das Geheimnis der Züge zu entlocken. Zu entdecken, dass es tatsächlich kein Zufall war, dass einmal in der Woche bei uns durch den kleinen Ort an der dänischen Grenze ein Zug nach von Kiel nach Westerland durch fuhr, und mehr und mehr nahm das eigene Land anhand des damals noch dichten Streckennetzes Konturen an. Ich kannte mich in Westdeutschland aus, als wäre ich schon in all den Orten gewesen, - sie kamen ins Gespräch, wie „Feuerbach“ und ich sagte nur laut nachdenkend die Streckenkarten vor dem inneren Auge, „das gehört zu Stuttgart“ - bis heute war noch nicht in Stuttgart-Feuerbach, grad dass ich erst vor drei Jahren zum ersten Mal durch Stuttgart gebummelt bin.

Welche Reise ich auch seit 1968 angetreten bin, der Blick ins Kursbuch war vorher immer dabei. Und dann kam die erste größere Herausforderung und Bewährungsprobe: wie weit kann ich mich auf dieses „Meisterwerk der Buchdruckkunst, voller Klarheit gepaart mit einer brillanten Aussagekraft“ (Loriot?, oder Peter Frankenfeld?) verlassen? Es gab sie noch die Bezirksfahrkarten, sieben Tage in einem fest umrissenen Bereich beliebig mit dem Zug fahren. Ich wollte die Landschaft zwischen Altenau und Wittingen, zwischen Vorsfelde(!) und Hannover erfahren und dabei sollten nicht die Hauptstrecken im Vordergrund stehen, sondern die sogenannten Nebenbahnen, auf denen – wie in einem Fall – nur einmal am Tag ein Zug hin und gleich wieder zurück fahren würde. - Ohne Kursbuch ist das heute, im Jahr 2008 schon gut leistbar, weil auf den wenigen noch vorhandenen Strecken die Züge mindestens alle zwei Stunden fahren und jeder Zug immer die gleich Strecke. Das wäre bis zur Erfindung des Taktfahrplans eher das absolute Abenteuer gewesen, verbunden mit dem Risiko in OFFLEBEN, direkt am Zaun zur DDR nicht mehr am selben Tag weiterfahren zu können... und es hat alles geklappt. Die Planung war gelungen, der Fahrplan stimmte und das Gesehene und Erlebte hat sich bis heute in der Erinnerung verankert. Solche Fahrten habe ich dann noch einige Male unternommen. Und ich darf mir gestatten von einem kleinen Meisterstück zu sprechen, dass wir in seinem Ergebnis dann 1989 „erfuhren“, drei Wochen Urlaub in Italien – Anreise mit dem Zug nach Südtirol zu dem uns über viele Jahre vertrauten Bergbauerndorf bei Bruneck, um dort eine Woche auszuruhen und dann in mehreren Etappen über Bozen – Verona – nach Ravenna – drei Nächte bleiben – weiter nach Süden – immer an der Küste entlang nach Brindisi – fünf Nächte bleiben und dabei Abstecher nach Galipoli (weiter südlich geht es mit der Schiene in Italien nicht) und nach Tarent – weiter auf die andere Seite nach Reggio d.C. Auch von dort Abstecher in das Umland und dann die nächste Etappe Salerno mit einem Ausflug nach Pompeji und als letzte Etappe stand Pisa auf der dem Plan, von dort ging es dann am letzten Tag wieder nach Hannover zurück durch die Schweiz. - Alles mit dem Zug und alles vorher mit dem Kursbuch vorbereitet – ohne die Mithilfe eines Reisebüros. Lachen mussten wir in Pisa, als unser deutschprechender Gastwirt darüber staunte, dass wir alles so geschafft hatten, wie es im Kursbuch gestanden habe „das geht doch in Italien eigentlich gar nicht!“ - wir hatten keine Probleme. Nach dem selben Muster gab es dann noch eine Fahrt durch die Schweiz – mit Schwerpunkt Graubünden und Uri.

Und immer wieder Fahrten auch in Westdeutschland, dann auch gleich schon zum Entdecken der ehemaligen DDR – ohne Kursbuch nach „K.O.Wiese“*) zu gelangen, wäre nur schwer machbar gewesen oder einmal mit dem Zug von Coburg über Sonneberg über den Rennsteig nach Ilmenau und wieder zurück. Seit 1972 sind wir zu zweit auf den Schienen unterwegs und entdeck(t)en die deutsche Heimat – aber ohne Kursbuch wäre das bis vor acht Jahren eher nicht machbar gewesen. Denn die ersten BTX- und Internet-Hilfen eigneten sich im Blick auf den Fahrplan nur etwas für Leute, die sich nicht im Streckennetz der Bundesbahn / Deutschen Bahn aus kannten. Es waren gar nicht die schnellsten und kürzesten Verbindungen, die einem da angeboten wurden, es waren die teuersten.

Ein letzter Aspekt zum Benutzen meiner Kursbücher. Einige habe ich aus den vergangenen Jahren aufgehoben. Denn sie erzählen mehr, als die Zahlen auf dem ersten Blick ahnen lassen. Inzwischen sind auch ältere Kursbücher dazu gekommen, aus der Zeit zwischen den Weltkriegen und kurz danach. Sie erzählen von Entwicklungen einer Landschaft, eines Ortes, selbst die Auswirkungen des II.Weltkrieges lassen sich noch einige Jahre später in den Tabellen entdecken.

Wenn tief aus dem Bayerischen Wald 1) nur montags in der Nacht ein Zug bis nach München fährt und jeden Freitag wieder den langen Weg zurück nimmt und irgendwann kurz vor Mitternacht sein letztes Ziel erreicht hat;

oder wenn alle Züge einer Strecke von beiden Seiten kommend vor dem Fluss2) ihren Endpunkt haben und die Fahrgäste per Fahrplan auf einen 2km Fußweg verwiesen werden, der es ihnen ermöglicht, die Reise auf der anderen Seite des Flusses fortzusetzen, wenn irgendwo zwischen Frankfurt und Saarbrücken in einem unbekannten Dorf3) eine Passkontrolle in jeden Zug zu erwarten ist oder bestimmte Züge, die nur mit Ausnahmegenehmigung4) von Deutschen Fahrgästen benutzt werden dürfen. - Ob die Leser dieser Zeilen, mit diesen Hinweisen auf Anhieb etwas anfangen könnten?



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*) = „Kurort Oberwiesental“

  1. = Wochenendpendler aus dem sehr armen „Wald“ arbeiteten die Woche über in München uU. - diese Züge verschwanden mit dem zunehmenden Individualverkehr

  2. = gesprengte Brücke über Flüsse und Schluchten haben noch einige Zeit den durchgehenden Verkehr behinderte

  3. = Das Saarland war bis 1958 Französisches Hoheitsgebiet

  4. = Ausgewählte D-Züge waren den Besatzungskräften und Reisenden aus dem Ausland vorbehalten – teilweise beschränkte sich das nur auf die 2.Klasse (1.-3.Klasse gab es noch!)


1.12.2008 – gez. Christel Prüßner, Hannover