GEH SCHICHTEN

 

"9. November 1989 - Wir in Hannover hätten es fast verschlafen!"

      Die sogenannte Wendezeit und besonders der 9. November sind für mich als „gelernter Wessi“ mit ganz eigenen Erinnerungen verbunden.

      Noch am 17.Juni waren wir zu Gast in der DDR und wir staunten schon über die seltsam laxen Grenzabfertigungen bei Ein- und Ausreise - und unseren Gastgebern sagte ich zu deren Verärgerung, dass sie in spätestens fünf Jahren frei reisen könnten. Es war so ein Bauchgefühl. Ich hatte beim Gang über den Markt den offenen Frust der Bürger gehört. Es waren keine kleinen Meckereien. Unsere Gastgeber aber fühlten sich mit meinem Bauchgefühl auf den Arm genommen und fanden diesen Gedanken auch gar nicht witzig.

      Dann am 9.11. hatte ich am Abend zusammen mit Kollegen und ehrenamtlich Mitarbeitenden eine monatliche Sitzung wahrzunehmen. Ich wusste, dass eine Aktion zur Progromnacht 1938 nachbesprochen werden sollte. Auf dem Weg dahin war ich in Eile, außerdem bewegte mich das Drama der vielen Flüchtlinge in meiner Kommune, die nicht mehr untergebracht werden konnten. Ich wollte den dringenden Vorschlag machen, ein von uns verantwortetes Jugendgästehaus bis zum Sommer dafür frei zu machen und ich ahnte die internen Widerstände!
      Ich hörte keine Nachrichten... und kam ein wenig zu spät und meldete meine Tagungspunkte an, erster Protest - und dann bei der Begründung meines Antrages flechte ich die Bemerkung ein: "stellt Euch vor, die machen seitens der DDR die Grenze auf, dann geht hier doch gar nichts mehr!" und dabei raunte mir ein Kollege zu "Du, die ist schon auf!" - ich empfand seine Anmerkung als puren Witz und wurde selbst zornig... keiner von uns wusste es, nur er. Er war noch etwas später als ich eingetroffen und hatte Nachrichten gehört. Mein Antrag wurde hochkantig abgelehnt, weil man "nicht immer auf dem Rücken der Jugendlichen" vorgehen könne...

      Und dann kamen schon am Wochenende die Massen und Hannover war geschlossen. Ladenschluss am Samstag, 14 Uhr...
      Eine heiße Empörung ging durch die öffentlichen Medien, wie kann man nur - auch wie grausam, da kommen unsere Brüder und Schwester und wir haben geschlossen.

      Und ich sehe vierzehn Tage später noch den Zug an Gleis 14 - für die Rückfahrt der tagesgäste in Richtung Magdeburg, der nicht abfahren konnte, weil er wegen seiner Überfülle so zur Seite hing, dass er am Bahnsteig lehnte... (leider habe ich kein Foto gemacht, grrr!)
      Die ganze Gefühlswelt wird in mir wieder und wieder wach, wenn ich nur an die ersten vier Wochen nach diesem markanten Datum denke.

      Wir hatten uns als Kontaktpartner für die Gäste aus der DDR zur Verfügung gestellt und lernten so Menschen aus Sachsen-Anhalt und Sachsen kennen, die bei uns ein-zwei Nächte bleiben konnten. Wer mit dem Zug über Marienborn oder Oebisfelde ankam, wurde gleich beim Verlassen des Hauptbahnhofes mit diesem Hinweisschild begrüßt, das anzeigte, wo es das Begrüßungsgeld gibt. - Dazu passend aber auch leicht in den Bereich der Ironie abrutschend der Sockel des Reiterbildes mit König "Ernst-August". Der Text auf der Breitseite hat schon viele Kenner der deutschen Sprache zum Schmunzeln gebracht, aber hier bekommt er nun eine ganz neue Bedeutung: "DEM LANDESVATER SEIN TREUES VOLK"  (gewissermaßen der hannöversche Genitiv) - Der Treffpunkt hier lautet auch heute noch "unterm Schwanz"

 

Sammlung "Geh Schichten" - (C) Christel Prüßner, Dersenow 2009/2014