GEH SCHICHTEN

 

Freundschaft (I)

„Aber Du bist doch mein einziger Freund!“

Irgendwann muss ich eben eine Pause machen dürfen – richtig, eben keinen Schlussstrich. Und dann staunt man noch viel mehr als vorher schon. - Was ist eine Freundschaft – eine freundschaftliche Beziehung. Aus den Begriffen der Sozialethik lässt sich das alles sehr gut erklären, auch die Spruchweisheiten helfen nur bedingt weiter. Vielleicht gibt es auch hier in Wirklichkeit keine Normen-Kontroll-Liste, die besagt, von diesem Punkt an erfüllt sich der Begriff und bis zu dem erfüllt sich der Begriff nicht.

Kennengelernt haben wir uns 1969 während des Studiums – es war eine mehr oder weniger aufgezwungene – nicht abgefragte Zimmer-Gemeinschaft. Wir mussten uns ein „Doppelzimmer“ teilen. Er sagte mir eher gar nichts und umgekehrt ich ihm wohl auch nicht. Er kam aus dem tiefsten Hessen, ich wohnte offiziell bei meiner Familie in Wolfsburg. „Ach der Äppelwoi-Trinker“; anderen war er schon aufgefallen. Denn allgemein war bei unserem 40-Personen-Jahrgang das Einbecker Bier bevorzugt, Auch da konnte ich eher nicht mitreden, denn damals lautete meine eigene Deutung für das “ulkige” Problem mit dem Alkohol noch, „das vertrag ich nicht, dagegen bin ich wohl allergisch!“ - Schmecken tat ja beides, der Apfelwein genau wie die „Gerstenkaltschale“ - aber ich vertrage einfach keinen Alkohol, der will sofort wieder raus… 

Wir zwei bekamen einen unaufdringlichen Gesprächsfaden über die banalsten Themen des Alltags, die Praktika und die damit zusammenhängenden Ungereimtheiten: Als Dritter im Bunde gesellte sich manchmal ein aus Holstein stammender dazu. Zwei satte aber auch trockene Theorie-Semester mussten überstanden werden. Die Verlässlichkeit des Freundlichen baute sich aus. Das machte sich auch fest an den Tipps, das super-magere Taschengeld bei der Wach- und Schließgesellschaft aufzustocken; Karten kontrollieren in den „Herrenhäuser Gärten“.

Dann eine Zäsur, wieder ein praktisches Jahr, er (nenne ich ihn von hier ab stark anonymisiert „Ingo“) wechselt sogar innerhalb Hannovers den Ausbildungsort und schlägt damit einen Nebenzweig ein, Krankenpflege. Ich trete zunächst einen Praktikumsplatz in einem Alten- und Pflegeheim in Alsfeld an, das Ziel die Aufgaben des Heimleiters in der Praxis kennen zu lernen. In dieser Zeit war der gesamte Kontakt Richtung Hannover auf extreme Sparflamme gesetzt, es mag ein oder zwei Briefe gegeben haben, aber es gab keine Begegnungen. Es sollte ein zweiter Teil dieser Praktikums-Schiene folgen in einem gleich gelagerten Haus in Alfeld, dieses Mal mit dem Ziel, die Arbeit einer Pflegestation im Blick auf Organisation und Arbeitsorganisation kennenzulernen. Dazu vermittelte mir die Fachhochschule einen Anlernkurs beim Deutschen Roten Kreuz, der mit der Ausgabe eines Ausweises endete, und mir bescheinigte, dass ich nun als Schwesternhelferin eingesetzt werden kann. Dazu war auch der praktische Einsatz in einem Krankenhaus erforderlich. Ich wählte das Friederikenstift in Hannover aus. In dem Haus lernte auch Ingo zusammen mit anderen aus unserem „Kurs“. Wir begegneten uns zwei drei Mal in der Zeit. Und das war auch gut so. Auf welchem Wege sich der Kontakt zwischen uns mehr und mehr verfestigte (und zu anderen des Jahrgangs zerbröselte) bleibt mir bis heute unklar – es war eben so. Wir trafen uns immer wieder mal. Meine neu gewonnenen Bekannten kamen hinzu, und ergänzten den Zirkel. Die verschiedenen Arbeitsbereiche brachten für private Treffen von Anfang an genug Probleme im Kalender mit sich. Er lernte meine Freundin kennen, wir verabredeten uns zum Bowling, oder zum Plausch in meiner kleinen Wohnung oder seinem Zimmer am Arbeitsplatz. Ingos Geburtstage wurden gewürdigt und er kam zu meinen Geburtstagen als Gast. Irgendwann lernten wir, meine Verlobte und ich, seine Freundin kennen, - wir fuhren zu viert an die Mosel und an die Nahe, um Wein direkt bei einem Winzer zu verkosten und zu kaufen - was damit geschildert wird ist eine gute Bekanntschaft, die freundlich gepflegt wurde und doch auch Hindernisse aufzeigte. Seine Freundin konnte mit uns nicht so viel anfangen und distanzierte sich oft genug spürbar (was wir als legitim erachteten, aber doch auch in der affektierten Art als befremdlich); sie krittelte in unserer Gegenwart an ihm herum. Wir mussten beobachten, wie sie ihn sich zurecht bog (Details sollen hier keine Rolle spielen). Wenn wir es zunächst als Spaß betrachteten und uns einmischten, wurde das Register „Böse und Schmoll“ gezogen.

Bei der für 1975 anstehenden Hochzeit sollte alles so sein, wie wir es uns wünschten, nicht nach dem Schema des „Das macht man doch so!“ Und wir luden zunächst nach der Terminfestlegung zwei typische Vertreter unseres fröhlichen Bekanntenkreises zu dem Termin (beim Standesamt) ein – ohne den Grund zu nennen, aber sie sollten bitte sehr den Personalausweis dabei haben; beide waren als Trauzeugen von uns ausersehen und sie sollten es beizeiten auf unsere Art erfahren. Das war etwa im Februar/März 1975. Der scheinbar lange Vorlauf war keine besondere Auffälligkeit für den einen, somit bestand noch genug Zeit, sich zu unterhalten. Bei dem einen guten Bekannten „Thomas“ fiel alles gar nicht so auf, er lebte frei und fröhlich als Student und kannte wegen des „Alfelder Zirkus“ schon die lange vorausschauenden Verabredungen. Personalausweis hin oder her. Er ahnte es aber schon! Ingo tat sich mit dem Nachdenken etwas schwerer und wollte die Ahnung eher nicht zulassen, seine Freundin sprach uns dann im Mai darauf an und fand das eigentlich sehr komisch, wie wir das machten. - Was soll's, er sollte ja der Trauzeuge sein, nicht sie. - Kritteleien gab es in dieser Hinsicht bis nach der Hochzeit und wir ließen die Lady gewähren. - um die Zeilen zu raffen, überspringe ich viele kleine Aspekte, die uns immer wieder in Erinnerung kommen und die alle nur klar zeigen, Ingo bemühte sich einerseits um die Fortsetzung des Kontaktes zu mir, doch war die Bremse an seiner Seite überaus aktiv, sich stark zurückzuhalten, Verabredungen waren nur noch nach Rücksprache mit ihr möglich. Anfangs gab es neben den Bowling-Treffen auch noch Karten-Spielrunden. Dann irgendwann eine standesamtliche Hochzeit der beiden. Klarer Umgang in der Rollenverteilung, wir gehörten zu denen, die man zu einem späteren Zeitpunkt aus Höflichkeit auch einlädt. Alles das ist auch in Ordnung so und zeigten rückblickend nur die eigentlich immer wieder klaren Verhältnisse auf, die meinerseits auch gar nicht anders eingeordnet wurden. Für zweieinhalb Jahre war ich im Emsland tätig, das nun Ehepaar besuchte uns dort ein- oder zweimal für einen längeren Nachmittag. - Sie bauten (für uns überraschend weit) vor den Toren der Stadt ein erstaunlich großes Haus, das erste Kind kam, auch hier wieder eine nette Einladung in der zweiten Reihe. Die Taufe dieses Kindes wird mit der kirchlichen Trauung verbunden. Um es zu bestärken, alles andere wäre auch aufgesetzt gewesen. Zwei Jahre später das zweite Kind. - Die kleine Besonderheit in diesem Fall, der Geburtstag entspricht unserem Hochzeitstag. - Und es folgte eine kleine, echt verblüffende Überraschung für mich, genau genommen für uns: Ingo äußerte den Wunsch, dass ich einer der Paten dieses Kindes sein solle. Auch der zweite Pate stammt aus der nicht eben dicht zur Familie gehörenden zweiten Reihe der guten Bekannten. Auch er wirkte, überrascht worden zu sein und sich in der Rolle nicht ganz sicher, welche Überlegungen sich wirklich hinter dem Wunsch verbergen könnten. Wichtig in meine Erinnerung aber ist der begleitende Satz des Kindsvaters „Ich habe den Wunsch, dass Du Pate...“ - nicht „wir“. Das “Wir” musste ich erst durch eine Rückfrage herauslocken, indem die Mutter sagte, sie sei damit “einverstanden”. - Es stellte sich für beide nun erst heraus, dass unser Hochzeitstag genau auf dem Geburtstag ihres Kindes lag; vergessen! - Im Blick auf das Patenamt habe ich eine zu hohe Wertvorstellung, als dass ich einfach nur um des Etiketts willen zugestimmt hatte. Damit gab es nun an dem für Monika und mich wichtigen Jahrestag auch einen Geburtstag zu berücksichtigen und damit auch umzugehen. - Jedes Jahr besuchten wir die Familie, um den jeweiligen der vier Geburtstage (in der Reihenfolge) von Ingo, seiner Frau, seiner Tochter und seines Sohnes zu würdigen und unsere Glückwünsche zu überbringen, oder wir meldeten uns aus der Urlaubsferne, als Minimum; es für uns ein Ritual, auf das man sich genauso verlassen konnte, wie auf die Begegnung mit den anderen Gratulanten, die genau zu denselben Zeitpunkten dort waren. Wir setzten uns auch eines Tages in den Bus und fuhren an einem Sonntagnachmittag einfach mal so vorbei, statt langer Anmeldungen und Verabredungen. Doch die Überraschung war nicht wirklich gut gelungen. Das Gesicht der Hausfrau war sehr quergestreift; es passt ihr nun mal gar nicht, dass wir ein unaufgeräumtes Haus vorfinden würden, sie seien doch gar nicht auf Besuch eingestellt. Im Jahr darauf kommen wir wie immer zum Geburtstag der Hausfrau, es ist ein Samstag, keiner von uns beiden hat Dienst, wir müssen also nicht nur auf einen Sprung reinschauen. Aber die Tür wird nicht geöffnet, keiner da! - Wir hängen das Präsent an die Haustür und ziehen unverrichteter Dinge wieder ab. - Eine Rückmeldung erfolgt nur auf unsere Anfrage, ob das Paket noch an der Tür gehangen habe! - Im folgenden Jahr, ein Sonntag, selbe Zeit, die Tür geht auf, „Ihr kommt jetzt aber ungelegen, ich bin noch gar nicht so weit!“ - Die Geburtstage von Monika werden schon lange nicht mehr wirklich registriert. Zwischendrin ein Lichtblick: 1989; ein mit uns per Brief und zwei drei Besuchen bekannter DDR-Bürger hat absolut überraschend eine Besuchsreise in den Westen genehmigt bekommen. Uns erreicht sein Telegramm zwei Tage vor der Abreise in den Urlaub nach Italien; er will noch weiter in einen anderen Ort bei Hannover, dort wohnt der eigentliche Reisegrund. - Dann stellt sich heraus, die Gastgebenden Jubilare hatten ihn zwar eingeladen, aber mit seinem Kommen nicht wirklich gerechnet und können ihren Gast erst am Tag des Jubiläums empfangen. Was soll der Gast nun machen? Wieder heimfahren? - Wir bieten ihm an, bei uns zu übernachten, und bitten Ingo, dass er sich am Jubiläumstag des Reisenden annimmt und die Schlüssel zu unserem Haus in Empfang nimmt. Der Frau von Ingo passte dieser Aufwand zwar überhaupt nicht in den Kram. Aber es hatte alles geklappt. - Dann fällt im Dezember des folgenden Jahres auf, dass Ingo mit dem Patenkind allein zu meinem Geburtstag kommt und als Präsent aus einer Plastiktasche von Aldi einen dort frisch gekauften Weihnachtsstollen zieht und ein Büchlein von „Uli Stein“. Beim Blick in das nicht irgendwie verpackte Büchlein fällt die Widmung seines Sohnes auf, der ihm im Jahr zuvor das Buch zu Weihnachten geschenkt hatte. - Folgendes Jahr Geburtstagsbesuch beim Patenkind, Monika kommt mit dem Linien-Bus von Hannover über Land gefahren, ich sammle sie vom Dienst kommend unterwegs ein, wir fahren zur Familie. Das älteste der beiden Kinder öffnet die Haustür, und wir erfahren: Keiner sonst da, alle sind in Salzgitter zum Schlittschuhlaufen in der Halle. Keine Nachricht, kein Nichts. - [Break] – Das wiederholt sich auf verschiedene Arten und Weisen von da an mehrmals. Es gibt nur noch ganz wenige Höflichkeitsbesuche. Bei denen nur noch das Umbauen des Hauses, oder Dinge im Mittelpunkt stehen, bei denen uns jeder Bezug fehlt und oder seitens der Gastgeber nicht hergestellt wird. Vergebliche Besuche zu Geburtstagen gehören auch weiterhin dazu. - Die Konfirmation des Patenkindes wird zum Planlauf in abgestuften Akten; und die Paten erfüllen nur noch ihre Rolle für den jeweils vorgesehenen Akt. Beim Abendmahlsgottesdienst am Vortag hatte man die Paten ganz vergessen „Wenn Ihr Lust habt, könnt ihr aber gerne auch mitkommen!“ - Am folgenden Konfirmationstag werden bestimmte Leute um 16 Uhr aus dem Haus komplimentiert, weil man jetzt an anderer Stelle weiterfeiern möchte – auch wir gehören dazu. - Zum Geburtstag im selben Jahr möchte ich die geahnte Enttäuschung Monika ersparen und fahre allein vom Dienst aus dorthin. Große Überraschung, „mit Dir haben wir jetzt aber gar nicht gerechnet, wir haben in Dingenskirchen für 18Uhr einen Tisch bestellt, das ist ja schon in zwanzig Minuten, kannst Dich ja kurz hier hinsetzen!“ - Wenige Sekunden nach mir erscheint der andere Pate, er wird genauso abgefertigt, wir müssen gehen!

Zu meinem Geburtstag in demselben Jahr hatten wir eine Reise geplant und sind auch losgefahren. Es war nicht die erste Extra-Tour dieser Art. Mit der Weihnachtspost hatten wir das allen Empfängern vom Urlaubsort mitgeteilt; auch Ingo und seiner Familie. Wir wussten schon lange, dass sie unsere Post (Karten wie Briefe) eher nicht zur Kenntnis nahmen. Denn laut deren Aussagen verreisten wir jedes Jahr im Sommer wie schon immer nach Südtirol. Dabei lag zu dem Zeitpunkt die letzte Fahrt dorthin bereits 15 Jahre zurück. Wir konnten also davon ausgehen, dass da jemand in die selbstgemachte Falle tappt und zu meinem Geburtstag seinen Pflichtbesuch absolvieren will. - Und er fand das gar nicht lustig! Er war sogar richtig sauer! - Aber wer lesen kann, ist bekanntlich im Vorteil. - Noch ein weiteres Jahr Geduld wollt ich mir auferlegen. Doch das wurde dann der Härtefall pur. - [Ohne Details!] - Daraufhin wurde bei uns beschlossen, wir laden unsere Gäste an dem Tag im Dezember zu einem anderem Platz am späten Nachmittag ein und wollten mal sehen, was am Abend passiert. - Auf der am Kiosk in unserem Stadtteil gekauften Karte standen bitterböse Sätze der Enttäuschung des vergeblichen Besuchers, dass er nun so einen weiten Weg extra gefahren sei und alles vergeblich und das nun schon im zweiten Jahr und dazu dann der Satz „Aber du bist doch mein einziger Freund!“

Welchen Wert hat dieser Hilfe-Ruf!? - Ich habe ihm einen freundlichen Brief zur Weihnachtspost beigelegt und um ein Jahr Abstand und Pause gebeten; aber auch angeboten, wenn er dann immer noch der Ansicht ist, dass dieser Kontakt eine Grundlage hat... - Die vergeblichen Fahrten haben nun seit langer Zeit ein Ende. Der Kontakt wurde nicht mehr gesucht!

Welchen Wert hat hier eigentlich das Wort FREUND? - Freundlichkeiten und Höflichkeiten sind nicht zwingend das Erkennungsmerkmal für eine Freundschaft.

 

Sammlung "Geh Schichten" - (C) Christel Pruessner, Hannover 2010