GEH SCHICHTEN

  Warum falle ich eigentlich nicht um?
Diese berühmten WARUM-Fragen konnten meine Eltern schnell auf die Palme bringen. Wenn es gut ging, dann kam lediglich ein harmloser Schnellversuch hinsichtlich einer Antwort, wenn es nicht so gut ablief, dann wurde mit einem Schnack gekontert „Warum ist die Banane krumm?“ - das wäre auch eine bestimmte spannende Frage gewesen, aber es setzt die Wahrnehmung voraus, dass es auch anders denkbar ist – so jedenfalls wusste ich, weiteres Fragen bringt aus Ärger nichts. Aber es waren nicht nur die Eltern, die hier wenig hilfreich ihre eigene Schwäche zum Ausdruck brachten – ohne es vielleicht zu wollen. - Ich habe den Namen meiner ersten Klassenlehrerin noch gut in Erinnerung. „Fräulein Becker“. Und diese sprach ich irgendwann im ersten Schuljahr an. Dazu muss man sich meine Schule vorstellen, ein zwar kleines, aber doch auf einen auch kleinen Wicht wuchtig wirkendes Gebäude mit acht großen, hohen Schulräumen auf zwei Etagen. Und nach dem Betreten des Gebäudes musste man zunächst eine kleine Barriere von fünf oder sechs Stufen nach oben erklimmen, eine breite, den gesamten Flur einnehmende steinerne Treppe. - Eine Treppe war für mich von meinem Zuhause her oben am Berge nichts besonders. Diese aber war nicht hoch, sondern ziemlich breit, hier gab es nicht das zu Hause sofort griffbereite Geländer, sondern nur rechts und links an der Wand – zu weit, wenn man in der Mitte der Treppe sich bewegte... Irgendwann muss mir beim Besteigen dieser Stufen aufgefallen sein, wie mein Körper sich gegen dieses ungestützte Gehen mit irgend etwas wendet und ein Umkippen verhindert, wenn ich für einen gar nicht so kurzen Moment auf einem Bein stehe. Aber wie geht das, denn ich tue es ja gar nicht willentlich und ich falle dennoch nicht um. „Fräulein Becker, warum falle ich eigentlich nicht um, wenn ich so eine Treppe hinausgehe?!“ fragte ich sie unvorbereitet außerhalb einer Schulstunde in diesem besagten Treppenhaus. Ich kann mich nicht an ihre Gestik oder sonst etwas Emotionales erinnern, geblieben ist allein die Antwort: „Das verstehst Du jetzt noch nicht!“

    Gewiss, so war es ja auch tatsächlich. Warum stellte ich sonst auch diese Frage! Doch die Antwort ist mir Schule dann doch schuldig geblieben. Und einfach nur mit einem Gleichgewichtssinn zu kommen, der irgendwo in meinem Ohr seine Dienste tut, das reicht wirklich nicht aus. - Viele Jahre später ging mir immer wieder ein Gedanke durch den Sinn: Ist damals mit dieser Antwort der Lehrerin der Deckel geschlossen worden, der mein Lernen aus Wissensdurst gefördert hätte; und ich musste dann durch eigene Querwege auf die Pfade des Lernens stoßen? - Meine Kritik am deutschen Schulsystem hat zumindest mit dieser eigentlich positiv belegten Erinnerung an eine Lehrerin, einen ersten Merkplatz als Beispiel erhalten. Es kam dann aber ja noch viel schlimmer!

 

 

 

Sammlung "Geh Schichten" - (C) Christel Pruessner, Dersenow 2013