Es war im Winter 1986, wenige Tage vor Weihnachten, in Dömitz an der
Elbe. - Wir hatten uns das erste Mal direkt in die DDR getraut – nicht
nur für einen Tag, sondern für ein verlängertes Wochenende. Und als
Gastgeber hatten wir auf seltsamen Wegen eine Familie in Boizenburg
aufgetan, die wir umgehend als unsere Verwandten ausgaben. Unser
Gastgeber, seit dem „Don Alfredo“ *) genannt, hatte sich als besondere
Überraschung für uns – und wie sich später herausstellte auch für sich –
eine Fahrt mit dem Dienst-Wagen (Trabant 601) nach Dömitz ausgedacht.
Schon die Fahrt ein Art Hindernislauf, denn der kürzeste Weg war (bis
zum Öffnen der „Mauer“) versperrt – aus staatssicherheitsrelevanten
Gründen.
Wer es sich nicht sofort und wirklich vorstellen kann, dem ist das auch
nur sehr schwer zu erklären. Die ohnehin schon martialische und
offiziell nahtlose Abschottung der Grenze mit Zäunen (Plural!) und
Sicherheitsschneisen und Signaldrähten usw. reichte nicht aus. Das war
auch noch entlang der Grenze zum Westen jeweils ein Sperrgebiet. Dieses
Sperrgebiet umfasste einen vom ersten Grenzzaun gemessen einen etwa 5km
tiefen Raum. Und wenn durch diesen Raum eine Straße führte, war sie nur
für solche Menschen befahrbar, die eine wirklich besondere
Sondergenehmigung dafür hatten, was aber nicht besagte, dass diese nicht
auch von Jetzt auf Nu wieder aufgehoben werden konnte, ohne jede
Begründung. Und wer diese Genehmigung erhalten wollte, musste in
Berlin(!) schon sehr gute Gründe vorlegen, Bewohner des Sperrgebietes
hatten eine solche Erlaubnis, aber deren eventuelle Gäste bekamen sie
nur mit nachgeprüften verlässlichen Verhalten dem Staat gegenüber.
Besucher aus dem Westen hatten eher eine Chance von 0,001%. Und damit
auch keiner meinte, man könnte sich über das Verbot der Einfahrt
hinwegsetzen, war auch das Sperrgebiet schon mit einem gesicherten
Kontrollposten versehen.
Zu diesem Sperrgebiet gehörten nach dem radikalen Dichtmachen der
Grenzanlagen 1961 auch kleinere Städte wie Boizenburg und Dömitz. Anfang
der 1980er Jahre (1982??) wurde das Sperrgebiet bei einzelnen Orten
(wie eben auch bei Boizenburg und Dömitz) so verengt, dass die Bewohner
des Ortes ohne Sondergenehmigung in Richtung DDR-Binnenland ein- und
ausreisen und auch Gäste aus dem Bereich der DDR ungehindert hierher
fahren durften. - ABER auch der sogenannte kleine Grenzverkehr für die
parallel zur Grenze liegenden westdeutschen Landkreise konnten nun in
diese Orte fahren.
Don-Alfredo, hatte zwar nun die Grenze gleich hinter den Häusern
Boizenburgs in anschaulicher Sichtweite, er kannte auch das Regime
innerhalb des Sperrbezirkes durch seinen beruflichen Alltag und war
froh, dass seine Stadt nun etwas freier atmen konnte. Aber er hatte von
Dömitz gehört, dass sich dort ein besonders seltsame Situation ergeben
habe. Und das wollte er uns zeigen und selber ansehen. Die Fahrt dahin
also führte schon auf Umwegen um den Sperrbezirk herum und verlängerte
so die kürzeste Route künstlich! Und dann war es klar, rund um Dömitz
war der Zaun nun gezogen, so dass man nur auf der einen Straße in die
Stadt gelangen konnte. Wir staunten über die Stadt mit der starken
Ausstrahlung, der weniger Kohleabgase aus den Schornsteinen und viel
Fassaden-Pflege bestimmt zu einem stolzen Bild verholfen hätten.
Don-Alfredo kannte einen Weg in die Kirche und machte uns eine
Besichtigung möglich. Und dann wollte er zur Festung, sagte er
demonstrativ. Wir nahmen den direkten Weg und er wurde immer langsamer
„schrecklich!“ sagte er leise. Ich muss zugeben, mir war das zunächst
nicht bewusst - OK, kurz bevor der Weg nach rechts zum Eingang der
Festung abbog, war ein Zaun zu sehen. Und dahinter arbeiteten auch
Männer in Maurerkleidung, nicht ungewöhnliches, vielleicht ein
Firmengelände, davor auch der rotweiße Schlagbaum quer über die Straße –
erst bei unserem Näherkommen traten von rechts und links jeweils zwei
uniformierte Männer mit Maschinengewehr hinter die Maurer. Nun erst nahm
ich auch den nächsten Zaun wahr und dahinter noch einen dritten und
dahinter sah ich das Ufer der Elbe. Erst als Don-Alfredo leise sagte:
„Sehen Sie mal da!“ ich war noch mit der idiotischen Situation zwischen
den Zäunen befasst. Vier Soldaten bewachten zwei Maurer bei deren
Arbeit. In einem reichlich engen Raum zwischen zwei Zäumen. „Sehen Sie
mal da drüben!“ - Was meinte er, „was soll da sein!??“ fragte ich
ratlos. „Da spielen Kinder am Ufer!“ kommt es prompt aus Don-Alfredo -
„mmmh, stimmt, - aber was ist daran besonderes, die spielen im Wasser!“ -
Ganz entgeistert und immer noch in der leisen Tonlage darauf wieder
Don-Alfredo „ja, aber da ist doch die Grenze, das geht doch nicht!“ - So
war es tatsächlich, da drüben spielten die Kinder ohne Bewachung am
Wasser der Elbe, und hier konnten die Dömitzer die Elbe lediglich durch
drei Reihen mit engen Zaunmaschen sehen. - Genauso, wie in seinem
Wohnort, Boizenburg, der schon immer den Zusatz „Elbe“ trägt, aber an
die Elbe gelangte ein Boizenburger auch erst etwa ab Wittenburg.
Die Grenze hatte hier eine Macht, die viele, vielleicht die meisten im
„Westen“ sich gar nicht ausmalen konnten. Selbst innerhalb der DDR, so
erfuhren wir in den Monaten nach der „Maueröffnung“ hatten viele von dem
Grenzregime im Westen der Republik nichts mitbekommen. Die wenigen
Gerüchte, sollten besser Gerüchte bleiben, als sie zu überprüfen. - Eine
Leipzigerin sagte es uns 1990 mal so: Was sollte ich mich mit Dingen
belasten, die ich eh nicht ändern konnte!“
*) = Wir bekamen in den Tagen auch eine LP geschenkt, von der Gruppe
„Karat“ und darauf auch das Lied „Don Alfredo“ - und wenn unser
Gastgeber auch (bis heute) ein überaus friedvoller Mensch ist, so war er
immer mit einer gefährlichen Waffe anzutreffen, seinem geschliffenen
Wort, nicht zu viele Worte, dennoch kurze feine, direkt sitzende Sätze. An deren Inhalt
nichts zu deuteln war und ist. Und soweit ich das bis heute einschätzen
kann. Selbst „die Firma Horch & Guck“ kam darum nicht wirklich an
ihn heran und ließ ihn gewähren...
Don Alfredo (Karat)
Wo kommst du her, Don Alfredo, noch so spät?
Du trägst einen Hut aus Chicago. Dein Gang ist so leicht.
Hast du noch gespielt im Casino? Für dein Geld?
Du trägst um den Hals schöne Ketten aus Perlenglanz
und Gold.
Wo kommst du denn her, Don Alfredo, noch so spät?
Du bittest den Herrn um Vergebung, und hast dabei gelacht.
Was hast du getan, Don Alfredo, heute Nacht?
Man sagt: Heute Nacht brennt der Himmel.
Warum machst du ein Kreuz?
Mama liest so laut in der Bibel von Abel und von Kain.
Wo kommst du denn her, Don Alfredo, noch so spät?
Du trägst einen Colt aus Virginia.
Sein Lauf ist ja noch warm.
Komm, trink noch den Rum aus Jamaica. Mama hat ihn gekauft.
Wo kommst du denn her, Don Alfredo, noch so spät?
Bist du bezahlt von den Killern? Mama hat schon geweint.
Es liegt vor der Tür mein großer Bruder, wie Che Guevara tot.