DIE MAUS ALS WESIR
(unbekannt)
Im Reich der Tiere war ein weiser Wesir. Er stand
Pharao stets zur Seite, lieh ihm Rat, betrieb in seinem Namen die Staatsgeschäfte
und sprach Recht. Er richtete über die Untertanen gerecht, aber voll
Milde. Im schönen Lebensjahr von 110 Jahren legte sich der Wesir und
starb. Nun hielt Seine Majestät der König unter den Höflingen
Ausschau, wen er zum neuen Wesir wählen solle. Aber keiner gefiel ihm,
und er hatte niemanden, de er um Rat fragen konnte.
Da kam er auf den Gedanken, ein Rätsel auszuschreiben. Wer es am besten
lösen würde, der sollte zum neuen Wesir ernannt werden. Er schickte
seine Boten durchs Land und ließ das Rätsel öffentlich verkünden.
Es lautete :
Die Tiere sannen über dem Rätsel, sannen
und sannen, aber es war für sie zu schwer. Einmal war der Mond schon
um die Erde gewandert, und noch immer war kein Wesir gefunden. Gerade als
der alte Mond zum letzten Mal unterging und Pharao beinahe verzweifelt war,
lief ein winziges Mäuslein heran und flüsterte dem König
ins Ohr :
> Das Amt des Wesirs.<
Das war des Rätsels Lösung. Pharao erhob
sein Haupt, pries die kleine Maus und bestimmte sie zu seinem Wesir.
Die Maus wurde feierlich in ihr neues Amt eingeführt. Pharao spendete
ihr Lobgold und nahm ihr den Wesirs-Eid ab. Dabei verlas er die Tugenden
eines gerechten Wesirs. Fortan sollte der Mauswesir zur Rechten Pharaos
sitzen.
Das Tiervolk bereitete unterdessen ein großes Fest vor, um die neue
Würde der Maus zu begehen.
Die Hasen entwarfen den Plan.
Das Nilpferd braute Bier, eine Ziege schleppte mit dem Nackenjoch Wasser
heran, und der Dickwanst selbst trieb die Maische durch das Sieb in den
Krug. Ein Schwein holte den Bierteig auf einer Schale, während eine
Hyäne das Junge des Schweins in einem Brusttuch hütete. Katzen
mischten in der Küche den Wein und backten Kuchen.
Eine große Kapelle übte Musik ein und probte Tänze. Der
Ziegenbock schlug die Trommel, ein Fuchs zupfte die Laute, ein anderer blies
auf der Doppeloboe. In der Ecke nebenan stand der Esel als Lehrmeister vor
zwei Ziegen. Er schwang den Taktstock zu den Tanzsprüngen der beiden
Gehörnten. Und auch das Krokodil und der Löwe brüllten Lieder
und begleiteten sie mit Musik.
Unterdessen wurde der Mäuserich zu seinem Festtag gerüstet. Man
wusch ihm die Füße, reichte ihm Augenschminke und den Spiegel.
Eine Katze trug ihm den Morgentrunk auf. Die Maus schlürfte den Wein
mit einem Rohr aus dem Krug.
Eine Katzenzofe band ihr eine schöne Schleife um den Hals, und wieder
eine andere Kammerzofe brachte den Wedel, um dem hohen Herrn kühle
Luft zuzuwedeln.
Bald war alles bereit.
Familie Maus fuhr im ersten Wagen. Aber dann kam auch schon das Gespann
mit den abgeordneten Gratulanten.
Schön geschmückt, mit einer Lotosblume auf dem Kopf, hinter ihr
ein Paladin. Der ganze Pavillon war mit Girlanden behängt.
Eine Katze mit Fächer trat vor, überreichte dem neuen Wesir eine
Schale mit duftender Speise und sprach einen Segenswunsch dazu. Ihr folgte
ein Fuchs mit einem großen Blumenstrauß. Doch als er den Glückwunsch
aufsagen wollte, war er so aufgeregt, dass er stotterte. Aber der Fuchs
mit der großen Standharfe spielte das Preislied unbeirrt zu Ende,
und die Maus erfreute sich an allem Schönen.
Hinter diesen Gratulanten folgte ein langer, langer Zug von Tieren, um der
Maus zu huldigen. Sie brachten Blumen, Wein und Kuchen, Schmuck, Waffen
und Gewänder in Truhen. Dabei musizierten sie ohne Pause. Der Mauswesir
thronte derweilen würdig und nahm die Ehrungen hoheitsvoll entgegen.
Alle Tiere vergnügten sich. Sie ließen es sich schmecken, scherzten,
machten Possen und wetteiferten auch im Spiel auf dem Brett.
Beinahe wäre jedoch auf dem Fest ein Unglück geschehen. Ein Krokodil
hatte einen kleinen Fisch mitgenommen, den es sehr liebte. Als die Hyäne
das appetitliche Tierchen sah, gelüstete es sie, das Tierkind zu fressen.
Aber das Krokodil verteidigte es mit seinem Schuppenschwanz, so dass ihm
kein Leid zustieß.
Das Krokodil ließ die Geschichte auf sich beruhen. Aber ein kleiner
Hund hatte sie beobachtet und verriet sie seiner Mutter. Die Hündin
hätte die Hyäne am liebsten gleich beim Wesir verklagt, aber der
Hyänenmann und der Hundvater baten, um der Eintracht willen zu schweigen.
So kam das Fest fröhlich zu Ende.
Doch anderen Tages begann mit dem Amt der Maus auch das Gericht. Gleich
wurden Missetäter ins Gefängnis abgeführt. Katze und Hund,
die Vorderpfoten im Block, wurden gefesselt fortgezogen. Ein Büttel
trieb sie von hinten mit einem Knüppel an. Die Katze nahm ihre Habseligkeiten
auf dem Kopf mit in den Arrest. Der Mauswesir war streng, aber gerecht.
Doch hatte die Maus auch viel Jähzorn im Charakter. Sie regte sich
rasch auf und stand in Gefahr, in ihrer Wut das Maß der Strafe zu
übertreiben. Besonders empfindlich war sie gegen das Mausen.
So ließ sie eines Tages ein nubisches Kind, das ein paar Datteln gemaust
hatte, vom Katzenbüttel heftig ausprügeln. Der Schuldige hob die
Arme und bat um Milde. Aber die Maus blieb unerbittlich. Das Jammern des
Kindes erbarmte sie nicht.
Das kam Pharao zu Ohren. Er ließ den Wesir zu sich rufen, tadelte
ihn gehörig und machte ihm zur Pflicht, sein Unrecht wiedergutzumachen.
Was tat die Maus?
Sie befahl, dass das nubische Kind die Katze ebenso verprügeln solle,
wie die Katze das Kind verprügelt hatte. Aber weil die Katze ja ganz
unschuldig war, zögerte das Kind, sie zu strafen. Doch die Maus verlangte
Gehorsam, und so schlug das Kind auf die arme Katze ein, bis sie kläglich
schrie.
Als Pharao die Geschichte erfuhr, wurde er wütend wie ein oberägyptischer
Panter. Er konnte keinen Hitzkopf in seinem Reiche dulden, der zuerst unbedacht
strafen ließ und dann ein Unrecht durch ein anderes Unrecht gutzumachen
suchte. So jagte er den Wesir mit Schimpf und Schande unverzüglich
aus dem Amt. Und nicht genug : Er empfand einen solchen Abscheu vor der
Maus, dass er weder sie noch ihresgleichen je im Leben wiedersehen wollte.
Darum gebot er öffentlich und laut :
Der König sprach‘s und so geschah es.
Daher kommt es, dass die Mäuse bis heute in unterirdischen
Höhlen hausen.