ZUR BESINNUNG (Sammlung)

An meinen Sohn Johannes

Den folgenden Brief schrieb Matthias Claudius im Jahre 1799 an seinen Sohn Johannes, der als sechstes von zehn Kindern 1783 geboren wurde. Das folgende Schreiben bekam Johannes als eine Art "Geleitbrief" mit, als er sich mit 16 Jahren auf den Weg nach Hamburg machte, um dort eine kaufmännische Lehre anzutreten.

Lieber Johannes!

Gold und Silber habe ich nicht, was ich aber habe, gebe ich Dir.

Die Zeit kommt allgemach heran, dass ich den Weg gehen muss, den man nicht wieder kommt. Ich kann Dich nicht mitnehmen; und lasse Dich in einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist.

Niemand ist weise von Mutterleibe an; Zeit und Erfahrung lehren hier und fegen die Tenne. Ich habe die Welt länger gesehen als Du. Es ist nicht alles Gold, lieber Sohn, was glänzet, und ich habe manchen Stern vom Himmel fallen und manchen Stab, auf den man sich verließ, brechen sehen. Darum will ich Dir einigen Rat geben und Dir sagen, was ich gefunden habe, und was die Zeit mich gelehret hat.

Es ist nichts groß, was nicht gut ist; und ist nichts wahr, was nicht bestehet.

Der Mensch ist hier nicht zu Hause, und er geht hier nicht von ungefähr in dem schlechten Rock umher. Denn siehe nur, alle andren Dinge hiermit und neben ihm sind und gehen dahin, ohne es zu wissen; der Mensch ist sich bewusst und wie eine hohe bleibende Wand, an der die Schatten vorüber gehen. Alle Dinge hiermit und neben ihm gehen dahin, einer fremden Willkür und Macht unterworfen, er ist sich selbst anvertraut und trägt sein Leben in seiner Hand. Und es ist nicht für ihn gleichgültig, ob er rechts oder links gehe. Lass Dir nicht weis machen, dass er sich raten könne und selbst seinen Weg wisse. Diese Welt ist für ihn zu wenig, und die unsichtbare siehet er nicht und kennet sie nicht. Spare Dir denn vergebliche Mühe und tue Dir kein Leid und besinne Dich Dein.

Halte Dich zu gut Böses zu tun. Hänge Dein Herz an kein vergänglich Ding. Die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, lieber Sohn, sondern wir müssen uns nach ihr richten. Was Du sehen kannst, das siehe und brauche Deine Augen, und über das Unsichtbare und Ewige halte Dich an Gottes Wort. Bleibe der Religion Deiner Väter getreu und hasse die theologischen Kannengießer. Scheue niemand so viel als Dich selbst. Inwendig in uns wohnet der Richter, der nicht trügt und an dessen Stimme uns mehr gelegen ist als an dem Beifall der ganzen Welt und der Weisheit der Griechen und Ägypter. Nimm es Dir vor, Sohn, nicht wider seine Stimme zu tun; und was Du sinnest und vorhast, schlage zuvor an Deine Stirn und frage ihn um Rat. Er spricht anfangs nur leise und stammelt wie ein unschuldiges Kind; doch, wenn Du seine Unschuld ehrst löset er gemach seine Zunge und wird Dir vemehmlicher sprechen.

Lerne gerne von anderen, und wo von Weisheit, Menschenglück, Licht, Freiheit, Tugend, usw., geredet wird; da höre fleißig zu. Doch traue nicht flugs und allerdings, denn die Wolken haben nicht alle Wasser, und es gibt mancherlei Weise. Sie meinen auch, dass sie die Sache hätten, wenn sie davon reden können und davon reden. Das ist aber nicht, Sohn. Man hat darum die Sache nicht, dass man davon reden kann und davon redet. Worte sind nur Worte, und wo sie so gar leicht und behende dahin fahren, da sei auf Deiner Hut, denn die Pferde, die den Wagen mit Gütern hinter sich haben, gehen langsameren Schrittes.

Erwarte nichts vom Treiben und den Treibern; und wo Geräusch auf der Gassen ist, da gehe fürbaß. Wenn Dich jemand will Weisheit lehren, da siehe in sein Angesicht. Dünket er sich noch; und sei er noch so gelehrt und noch so berühmt, lass und gehe seiner Kundschaft müßig. Was einer nicht hat, das kann er auch nicht geben. Und der ist nicht frei, der da will tun können, was er will, sondem der ist frei, der da wollen kann, was er tun soll. Und der ist nicht weise, der sich dünket, dass er wisse, sondern der ist weise, der seiner Unwissenheit inne geworden und durch die Sache des Dünkels genesen ist. Was imi Hirn ist, das ist im Hirn und Existenz ist die erste aller Eigenschaften... Verachte keine Religion, denn sie ist dem Geist gemeint, und Du weißt nicht, was unter unansehnlichen Bildern verborgen sein könne. Es ist leicht zu verachten, Sohn, und verstehen ist viel besser. Lehre nicht andre, bis Du selbst gelehrt bist Nimm Dich der Wahrheit an, wenn Du kannst, und lass Dich gerne ihretwegen hassen; doch wisse, dass Deine Sache nicht die Sache der Wahrheit ist, und hüte. dass sie nicht ineinander fließen, sonst hast Du Deinen Lohn dahin. Tue das Gute vor Dich hin und bekümmre Dich nicht, was daraus werden wird. Wolle nur einerlei, und das wolle von Herzen.

Sorge für Deinen Leib, doch nicht so, als wenn er Deine Seele wäre. Gehorche der Obrigkeit, und lass die andern über sie streiten. Sei rechtschaffen gegen jedermann, doch vertraue Dichschwerlich. Mische Dich nicht in fremde Dinge, aber die Deinigen tue mit Fleiß. Schmeichle niemand, und lass Dir nicht schmeicheln. Ehre einen jeden nach seinem Stande, und lass ihn sich schämen, wenn er's nicht verdient. Werde niemand nichts schuldig; doch sei zuvorkommend, als ob sie alle Deine Gläubiger wären. Wolle nicht immer großmütig sein, aber gerecht sei immer. Mache niemand graue Haare, doch wenn Du Recht tust, hast Du um die Haare nicht zu sorgen.

Misstraue der Gestikulation, und gebärde Dich schlecht und recht. Hilf und gib gerne, wenn Du hast, und dünke Dir darum nicht mehr, und wenn Du nicht hast, so habe den Trunk kalten Wassers zur Hand, und dünke Dir darum nicht weniger. Tue keinem Mädchen Leides, und denke, dass Deine Mutter auch ein Mädchen gewesen ist. Sage nicht alles, was Du weißt, aber wisse immer, was Du sagest. Hänge Dich an keinen Großen. Sitze nicht, wo die Spötter sitzen, denn sie sind die elendesten unter allen Kreaturen. Nicht die frömmelnden, aber die frommen Menschen achte, und gehe ihnen nach. Ein Mensch, der wahre Gottesfurcht im Herzen hat, ist wie die Sonne, die da scheinet und wärmt, wenn sie auch nicht redet. Tue was des Lohnes wert ist, und begehre keinen.

Wenn Du Not hast, so klage sie Dir und keinem andern. Habe immer etwas Gutes im Sinn.
Wenn ich gestorben bin, so drücke mir die Augen zu und beweine mich nicht. Stehe Deiner Mutter bei und ehre sie, so lange sie lebt, und begrabe sie neben mir. Und sinne täglich nach über Tod und Leben, ob Du es finden möchtest, und habe einen freudigen Mut; und gehe nicht aus der Welt, ohne Deine Liebe und Ehrfurcht für den Stifter des Christentums durch irgendetwas öffentlich bezeuget zu haben.

Dein treuer Vater

Warum studiere ich Theologie?

Warum sollte gerade ich Pastor werden?
Warum nicht?!
Für mich hat sich selten die Frage gestellt, warum gerade ich zum Priestertum berufen sein soll. Und gefragt, welche Gründe ich hätte, weiß ich auch heute oft keine Antwort. Für mich stellt sich vielmehr die Frage: Welche Gründe habe ich, nicht Priester zu werden?
Als ich ins 10. Schuljahr kam und mich so langsam zu fragen begann, was wohl mal später aus mir werden würde, habe ich an alles mögliche gedacht - aber an den Pastorenberuf habe ich bestimmt nicht gedacht. Ich war zwar Messdiener und auch in der Jugendarbeit tätig, aber Priester? Das war etwas, ganz weit entfernt, das über alles schwebte...

Auf dem Gedanken kam ich erst, als ein guter Freund von mir sich dazu entschloss Pastor zu werden. Wie kam der nur dazu?
Irgendwie fragte ich mich dann auch, wenn der das kann, warum nicht auch du?
Tja, da stand ich nun. Warum nicht? Ehrlich gesagt, richtig handfeste Gründe fielen mir nicht ein. Gut, ich muss auf ein geregeltes Arbeitsleben verzichten, auf Karriere, auf viel Geld, ruhiges Leben, und und und... aber das waren keine Gründe.
Und so bohrte sich die Frage immer tiefer. Und je mehr ich mich damit beschäftigte, um so mehr freundete ich mich damit an.

Sehr hilfreich war da auch unser Vikar, der mich zeigte, dass Pastor sein kein Reiten auf einem hohen Ross ist, sondern zunächst ein ganz normaler Mensch, der sich in besonderer Weise zum Dienst an den Menschen verpflichtet hat.
Wenn Christus uns wirklich alle zum Dienst an Gott und den Menschen ruft, so muss ich zunächst schauen, wie ich mit meinem Talenten, Fähigkeiten und Eigenschaften und auch mit meinen Schwächen, diesem Dienst besonders gut erfüllen kann. Dieser bestmögliche Dienst kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, vom Beamten, Handwerker, Angestellten und Arbeiter sollte jeder versuchen, durch seinen Lebensentwurf Gott zu dienen. Der Beruf des Pastors bringt keinen Bonus im Himmel mit sich - ich bin nicht für mich Pastor, sondern für andere.
So sollte sich jeder Fragen, wie er seine Fähigkeiten in den Dienst Gottes stellen kann - und dabei nicht den Beruf „Pastor" unbedingt ausklammern.

Die Tatsache, dass nichts dagegen spricht, dass ich Pastor werde, allein reicht natürlich nicht. Aber ich glaube, wenn ich von Anfang an nach Anzeichen gesucht hätte, die mir unmissverständlich klar machen: „Du musst Pastor werden", so wäre ich jetzt nicht hier. Inzwischen glaube ich - durch viele Gespräche und Gebete - so langsam zu erkennen, dass es so etwas wie den Ruf Gottes tatsächlich gibt - und noch habe ich 5 Jahre Zeit, ihn in mir festzumachen -, aber hätte ich von vornherein gesagt: „Pastorr werde ich nur dann, wenn mir Gott es höchstpersönlich sagt, dass ich es kann", dann wäre ich nie da, wo ich jetzt bin - und ich muss sagen, ich bin froh darüber, dass ich mir Gedanken gemacht habe - egal, wie es jetzt weiter geht. Denn Jesus Christus hat gesagt: „Ich bin bei euch, alle Tage."

Wegweiser

Ein junger Mann hatte das Herumsitzen satt und wollte sich auf den Weg machen. Er hatte davon gehört, dass in einem fernen Land das Glück höchstpersönlich zu finden sei. Ein alter Mann, der behauptete, aus diesem Land zu stammen, hatte ihm davon erzählt. "Es ist ganz leicht, dieses Land zu finden", hatte er gesagt, "benutze einfach die Kirchtürme als Wegweiser. Sie zeigen dir, wo es lang geht."

«Nun, wenn dies so einfach ist», sagte sich der junge Mann, «dann will ich mich nicht länger mit Nichtstun aufhalten.» Er machte sich auf den Weg und hielt dabei nach dem erstem Kirchturm Ausschau. Und tatsächlich, nach einer kurzen Strecke, sah er weit entfernt vor sich einen Kirchturm hoch in der Landschaft aufragen. Ohne zu Zögern ging er diesem Kirchturm entgegen. Nach einigen Stunden hatte er das Dorf, in dem der Kirchturm stand, erreicht. Und als er diesen Kirchturm nur ein wenig bestieg, sah er bereits den Turm der Kirche aus dem Nachbarort. Von diesem aus zeigte sich wiederum der nächste Turm, und so ging seine Reise sehr zügig von Ort zu Ort, immer den Kirchtürmen folgend, die wie riesige Wegweiser weithin sichtbar in der Landschaft standen.

Der junge Mann kam auf diese Weise in fremde Länder, die er zuvor noch nie gesehen hatte, die Kirchtürme hatten dort andere Formen und Gestalten, aber immer waren sie hoch aufgerichtet und von weitem zu sehen. Doch in das Land, in dem das Glück höchstpersönlich wohnen sollte, kam er nicht. Nach und nach bekam der junge Mann Zweifel, ob das wirklich der richtige Weg war, um das Glück zu finden.

Und wie der Zufall es wollte, gerade, als er die Reise aufgeben wollte, begegnete ihm wieder der alte Mann, der ihm zu dieser Suche Mut gemacht hatte. Der junge Mann klagte ihm sein Leid und die Vergeblichkeit seiner Reise, bei der ihm die Kirchtürme als Wegweiser dienten. Doch der alte Mann lächelte und sagte: «Du willst eine Reise unternehmen und weißt nicht einmal, wie man Wegweiser benutzt? Nun, du bist zwar von Kirchturm zu Kirchturm gegangen, aber du hast nicht den Weg benutzt, den dir die Türme gewiesen haben: Schau hin! Alle Wegweiser-Kirchtürme zeigen - nach oben!»

 

100 Euro

Ein wohlbekannter Sprecher startete sein Seminar, indem er einen Scheck von 100 EURO hoch hielt.

In dem Raum saßen insgesamt 200 Leute. Er fragte: "Wer möchte diesen Scheck haben?" Alle Hände gingen hoch.

Er sagte: "Ich werde diesen 100-EURO-Scheck einem von Euch geben, aber zuerst lasst mich eins tun."
Er zerknitterte den Scheck. Dann fragte er: "Möchte ihn immer noch einer haben?" Die Hände waren immer noch alle oben.

"Also", erwiderte er: "Was ist wenn ich das tue?" Er warf ihn auf den Boden und rieb den Scheck mit seinen Schuhen am dreckigen Untergrund. Er hob den Scheck auf; er war zerknittert und völlig dreckig. "Nun, wer möchte ihn jetzt noch haben?" Es waren immer noch alle Arme in der Luft.

Dann sagte er: "Liebe Freunde, wir haben soeben eine sehr wertvolle Lektion gelernt. Was auch immer mit dem Scheck geschah, ihr wolltet ihn haben, weil er nie an seinem Wert verloren hat. Er war immer noch und stets 100 EURO wert. Es passiert oft in unserem Leben, daß wir abgestoßen, zu Boden geworfen, zerknittert, und in den Dreck geschmissen werden. Das sind Tatsachen aus dem alltäglichen Leben. Dann fühlen wir uns, als ob wir wertlos wären. Aber egal was passiert ist oder was passieren wird, DU wirst niemals an Wert verlieren. Schmutzig oder sauber, zerknittert oder fein gebügelt, DU bist immer noch unbezahlbar für all jene, die dich über alles lieben. Der Wert unseres Lebens wird nicht durch das bewertet, was wir tun oder wen wir kennen, sondern dadurch WER DU BIST.
Du bist was besonderes - vergiss das NIEMALS! - Und denk daran: Einfache Leute haben die Arche gebaut - Fachmänner die Titanic."

Wo ist Gott?!

      Eli Wiesel schreibt nach seiner Befreiung aus dem KZ auf Wunsch der Alliierten seine grauenhaften Erfahrungen nieder. Dort heißt es an einer Stelle:

Ich habe in der Folge mehreren Erhängungen beigewohnt. Nie habe. ich einen der Verurteilten weinen sehen, denn ihre ausgemergelten Körper hatten seit langem den bitteren Trost der Tränen vergessen.

Mit Ausnahme einer Vollstreckung. Der Oberkapo des 52. Kabelkommandos war ein Holländer, ein über zwei Meter hoher Riese. Siebenhundert Häftlinge arbeiteten unter seinem Befehl und alle liebten Ihn wie einen Bruder. Nie hatte einer eine Ohrfeige von seiner Hand bekommen, nie einen Fluch aus seinem Munde gehört.
Er hatte im Dienst einen jungen Burschen bei sich, einen Pipel, wie man ihn nannte, ein Kind mit feingezeichneten schönen Gesichtszügen, das nicht in unser Lager passte.
(In Buna hasste man die Pipel: dort erwiesen sie s" oft grausamer als die Erwachsenen. Ich habe einmal einen Dreizehnjährigen seinen Vater schlagen sehen, weil dieser sein Bett nicht gut gemacht hatte. Da der Alte sanft weinte, schrie der Junge: "Wenn du nicht sofort aufhörst zu heulen, bring ich dir kein Brot mehr. Verstanden?" Der kleine Diener des Holländers wurde jedoch von allen geliebt. Er hatte das Gesicht eines unglücklichen Engels.)
Eines Tages flog die Elektrozentrale von Buna in die Luft. An Ort und Stelle gerufen schloss die Gestapo auf Sabotage. Man fand eine Fährte, die in den Block des holländischen Oberkapos führte. Dort entdeckte man nach einer Durchsuchung eine bedeutende Menge Waffen.
Der Oberkapo wurde auf der Stelle festgenommen. Wochenlang wurde er gefoltert. Umsonst. Er gab keinen Namen preis, wurde nach Auschwitz überführt und war fortan verschollen.
Aber sein Pipel blieb im Lager, im Kerker. Gleichfalls gefoltert, blieb auch er stumm. Die SS verurteilte ihn daher zusammen mit zwei anderen Häftlingen, bei denen Waffen gefunden worden waren, zum Tode.
Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Antreten. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Pipel, der Engel mit den traurigen Augen.

Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich. Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.
Diesmal weigerte sich der Lagerkapo, als Henker zu dienen. Drei SS-Männer traten an seine Stelle.
Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schling eingeführt.

"Es lebe die Freiheit" riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg.

"Wo ist Gott, wo Ist er?" fragte jemand hinter mir.

Auf ein Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle um.

Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter.

"Mützen ab!" brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten.

"Mützen auf!"

Dann begann der Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr... Aber der dritte Strick hing nicht leblos: der leichte Knabe lebte noch ...

Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen zwischen Leben und Sterben seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorbeischritt. Seine Zunge war noch rot, seine Augen noch nicht erloschen.
Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen:
"Wo ist Gott?'

Und ich hörte eine Stimme in mir antworten:

"Wo er ist? Dort - dort hängt er, am Galgen..."

Eli Wiesel

Die große und die kleine Hand

    Es sagte einmal die kleine Hand zur großen Hand:

    "Du, große Hand, ich brauche dich,
    wenn ich wach werde,
    wenn ich Hunger habe und du mich fütterst,
    wenn ich meine erste Schritte versuche und du mich hälst,
    wenn ich zu dirkomme, weil ich Angst habe.
    Ich bitte dich, bleib in meiner Nähe und halte mich."

    Und es sagte die große Hand zur kleinen Hand:

    "Du, kleine Hand, ich brauche dich,
    das spüre ich,
    weil ich für dich sorgen darf,
    weil ich mit dir spielen und lachen kann,
    weil ich mit dir wunderbare Dinge entdecke,
    weil ich deine Wärme fühle und dich lieb habe,
    weil du ein Teil von mir bist.
    Ich bitte dich, bleib in meiner Nähe und halte mich."

Zwei Engel

    Zwei reisende Engel machten Halt, um die Nacht im Hause einer wohlhabenden Familie zu verbringen.

    Die Familie war unhöflich und verweigerte den Engeln, im Gästezimmer des Haupthauses auszuruhen. Anstelle dessen bekamen sie einen kleinen Platz im kalten Keller. Als sie sich auf dem harten Boden ausstreckten, sah der ältere Engel ein Loch in der Wand und reparierte es. Als der jüngere Engel fragte, warum, antwortete der ältere Engel: "Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen."

    In der nächsten Nacht rasteten die beiden im Haus eines sehr armen, aber gastfreundlichen Bauern und seiner Frau. Nachdem sie das wenige Essen, das sie hatten, mit ihnen geteilt hatten, ließen sie die Engel in ihrem Bett schlafen, wo sie gut schliefen. Als die Sonne am nächsten Tag den Himmel erklomm, fanden die Engel den Bauern und seine Frau in Tränen. Ihre einzige Kuh, deren Milch ihr alleiniges Einkommen gewesen war, lag tot auf dem Feld.

    Der jüngere Engel wurde wütend und fragte den älteren Engel, wie er das habe geschehen lassen können? "Der erste Mann hatte alles, trotzdem halfst du ihm", meinte er anklagend. "Die zweite Familie hatte wenig, und du ließest die Kuh sterben. "Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen", sagte der ältere Engel. "Als wir im kalten Keller des Haupthauses ruhten, bemerkte ich, dass Gold in diesem Loch in der Wand steckte. Weil der Eigentümer so von Gier besessen war und sein glückliches Schicksal nicht teilen wollte, versiegelte ich die Wand, so dass er es nicht finden konnte. Als wir dann in der letzten Nacht im Bett des Bauern schliefen, kam der Engel des Todes, um seine Frau zu holen. Ich gab ihm die Kuh anstatt dessen. Die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen."

Kopfschmerzen

In einem fernen Land litten die Menschen von Geburt an unter schrecklichen Kopfschmerzen, die alle schlecht gelaunt machten und enorme Konzentrationsschwächen mit sich brachten. Dadurch bedingt wurden immer wieder Fehler gemacht, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik, in der Erziehung und in allen Bereichen des Lebens. Eines Tages erfand ein Arzt ein ganz neues Heilmittel: Es war ein bitter schmeckendes Getränk, das man anfangs in einer großen Dosis und danach immer wieder regelmäßig in kleineren Dosen zu sich nehmen mußte. Damit es auch richtig wirkte, mußte man allerdings auf bestimmte andere Speisen und Getränke verzichten und die Lebensgewohnheiten entsprechend umstellen. Als die ersten Menschen dieses Mittel ausprobiert hatten, wurden die meisten von ihnen schlagartig von den Kopfschmerzen befreit, bei anderen trat eine allmähliche spürbare Besserung auf. Immer mehr wollten dieses Mittel in Anspruch nehmen, schließlich wurde es sogar vom Landesherrn empfohlen und die Verbreitung unterstützt. Die durch die Kopfschmerzen bedingten Fehler wurden seltener im Land, alle Welt staunte über das Aufblühen der Kultur.

So vergingen Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte. Eine ganze Ärzteschaft bemühte sich, das Heilmittel bekannt und attraktiv zu machen. Schon kurz nach der Geburt wurde den Kindern das Getränk gegeben, und man bemühte sich, den größer gewordenen Kindern das regelmäßige Einnehmen des Heilmittels mit allen möglichen zusätzlichen Geschenken schmackhaft zu machen. Nach einiger Zeit standen die Feste, die man darum feierte, so sehr im Mittelpunkt, daß man allmählich vergaß, wogegen das Mittel eigentlich dienen sollte. Dummerweise stellten sich daraufhin bei mehreren Menschen wieder Kopfschmerzen ein, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Man dachte sich nicht viel dabei, und die Ärzte fanden allerlei Gründe dafür; doch diejenigen, die darauf hinwiesen, daß die Kopfschmerzen vielleicht daher rührten, daß man sich nicht mehr genau an die Gebrauchsanweisung des Mittels hielt und damit unverträgliche Lebensgewohnheiten wieder mehr und mehr aufleben ließ, konnten sich mit ihrer Meinung nicht durchsetzen. Manche Ärzte glaubten selbst nicht mehr an die Wirkung des Medikaments; sie hatten selbst mit starken Kopfschmerzen zu kämpfen, aber sie trösteten sich damit, daß sie als Kapazitäten galten auf dem Gebiet der Werbung für das Mittel.

Es soll sogar Gegenden gegeben haben, wo man das Medikament nur noch wegen der damit verbundenen Feiern den Kindern im entsprechenden Alter verabreichte; ansonsten waren es nur wenige Menschen, die regelmäßig und streng nach Gebrauchsanweisung von dem Getränk nahmen. Daß sie keine Kopfschmerzen hatten, nahm man ihnen nicht ab, weil mittlerweile wieder jeder über die Kopfschmerzen klagte - wenn auch nicht alle in gleichem Maße -, und man sich nicht mehr vorstellen konnte, daß man davon ganz frei sein könnte. Man kannte zwar die alten Berichte über die unglaublichen Wirkungen dieses Mittels, aber die in kritischer Medizingeschichte geschulten Ärzte konnten diese Erzählungen allesamt ins Reich der Legende verweisen.

So begannen die Bürger dieses Landes, sich nach anderen Kopfschmerzmitteln umzuschauen. Jede noch so verrückte Idee wurde begierig ausprobiert, doch nach vielen gescheiterten Experimenten stellte sich allgemeine Hoffnungslosigkeit ein...

Freilich gab es auch immer wieder Menschen, die die Heilkraft des Getränks wiederentdeckten; ob sie ihre Entdeckung wohl glaubhaft machen konnten?