DIE LEGENDE VOM VIERTEN KÖNIG

      Wußten Sie eigentlich, daß nicht drei, sondern vier Könige aus dem Morgenlande aufgebrochen waren, um den König der Menschen anzubeten?  So berichtet es jedenfalls eine alte russische Legende.  Auf  vier verschiedenen Wegen kamen sie gezogen, und jeder trug das Köstlichste seines Landes: - leuchtendes Gold der eine, - süßen Weihrauch, der andere, - herrliche Myrrhe der dritte, - und der vierte und jüngste, drei Edelsteine von unschätzbarem Wert.  Der geheimnisvolle Stern zog ihnen voran, und rastlos folgte jeder diesem Stern.  Sie kannten nicht Tag noch Nacht, nicht Hunger noch Durst.  Blind waren sie auf ihrer langen Reise für die Schönheit der Erde, taub für die lärmende Pracht der Städte.
      Die Wüste fürchteten sie nicht.  Selbst die Sonne konnte ihnen keinen Schaden zufügen, denn sie suchten ja ihn, nach dem ihr Volk seit tausend Jahren ausgeschaut hatte, den Gottkönig, den Erlöser.
      Und in keinem brannte die Sehnsucht, Gott zu schauen, so wie in dem jungen König.  Er ritt zu letzt ganz in seine Wunschträume versunken.  Da - aufeinmal vernahm er ein Schluchzen, so zwingend und so bitterlich, daß er aus allen Träumen aufgerissen war.  - Im Staub sah er ein Kind liegen, nackt, aus fünf Wunden blutend.  So seltsam fremd und zart war dies Kind und ohne jede Hilfe, daß er es in heißem Erbarmen behutsam auf sein Pferd hob.  Langsam ritt er ins Dorf, durch das er eben erst gekommen war, zurück.  - Die drei anderen Könige indessen hatten nichts gemerkt.  Sie zogen unentwegt dem Stern nach.  Im Dorf kannte niemand das Kind.  Der junge König aber hatte es so lieb gewonnen, daß er es einer guten Frau zur Pflege gab.  Aus seinem Gürtel holte er den einen Edelstein und vermachte ihm den Kind, damit so sein Leben gesichert sei.  Dann aber trieb es ihn fort, die Gefährten und den Stern, den er aus den Augen verloren hatte, zu suchen.  - Er fragte die Menschen nach dem Weg, den fremden Könige genommen und - oh Freude - eines Tages erblickte er den Stern wieder und eilte ihm nach.  Seine Sehnsucht, den Heiland der Welt zu finden, war groß und doch mußte er immer wieder an das Kind denken.

      Der Stern führte ihn durch eine Stadt.  Ein Leichenzug begegnete ihm.  Und hinter dem Sarg schritt eine Frau mit ihren Kindern.  Äußerste Trostlosigkeit sprach aus ihrem Gesicht.  Und in ihrer eigenen Verzweiflung klammerten sich die Kinder an ihre Mutter.  Da stieg der König vom Pferd, denn konnte leicht erkennen, daß es nicht allein die Trauer um den Verstorbenen war, die diese inneren Schmerzen verursachten.  Den Mann und Vater trugen sie zu Grabe, und vom Grabe weg sollten die Frau und die Kinder als Sklaven verkauft und auseinandergerissen werden, weil sich niemand bereitfand, der für ihre Schulden aufkommen wollte.  Von Mitleid vollkommen eingenommen, entnahm der junge König seinem Gürtel den zweiten Edelstein.  Er lag ihm auf der Hand, und die Sonne ließ ihn funkeln und leuchten. Dieser Stein war dem neugeborenen König zugedacht.  Doch mit einer raschen Bewegung legte er ihn in die Hand der trauernden Witwe: "Bezahlt damit, was ihr schuldig seid und kauft euch Haus und Hof und Land, damit ihr und eure Kinder eine Heimat haben."

      Kaum hatte er das gesagt, da schwang er sich auf sein Pferd und wollte dem Stern entgegenreiten - doch dieser Stern war wie erloschen, - tage- und wochenlang suchte und forschte er nach ihm.  Und er wurde ganz traurig.  Er bekam Angst, daß er nun nie mehr Gott finden dürfte.  Wer dem jungen König begegnete, mußte annehmen, er sei schwer krank.  Bis sein Licht ihm eines Tages wieder schien, der Stern wieder für ihn leuchtete und er sich mit frischer Kraft und einem fröhlichen Herzen auf den Weg zu seinem Ziel machte.

      Er kam durch ein fremdes Land.  Krieg wütete dort und Leid und Elend und Blut bedeckten die Erde und die Herzen der Menschen.  In einem Dorf hatten die Soldaten die Bauern auf einem Platz zusammengetrieben.  Eines grausamen Todes sollten sie sterben.  In den Hütten schrien die Frauen im Wahnsinn des Entsetzens und die Kinder wimmerten.  Da packte den jungen König das Grauen.  Er hatte zwar nur mehr einen einzigen Stein, sollte er denn mit leeren Händen vor dem König der Menschen erscheinen?  Doch dies Elend war so riesengroß, daß er nun auch den letzten Stein mit zitternden Händen opferte, die Menschen vom Tode loskaufte und das Dorf vor der Verwüstung bewahrte.  Müde und traurig ritt er weiter.  Sein Stern leuchtete nicht mehr.  Seine Seele war im Leid schier untergegangen.  Wo war nur der Weg, den zu gehen hatten, um zu dem König der Menschen zu gelangen. Immer und immer wieder riß die Not der Menschen ihm vom Ziel zurück.  Jahrelang wanderte er.  Zuletzt zu Fuß, da er auch sein Pferd verschenkt hatte.  Nichts besaß er mehr.  Jetzt mußte er sogar selber betteln.  Und er half immer weiter; - dort einer alten Frau die zu schwere Last zu tragen - hier zeigte er einem Schwachen, wie er sich gegen die Übermacht der Stärkeren durchsetzen könnte - er pflegte Kranke - und scheuchte einem halbverhungerten Pferd die lästigen Fliegen fort.  - bis er selbst als Sklave in einer großen Tretmühle gefesselt stand, weil er einem schwerkranken Mann das Leben retten wollte.

      Aber wo war sein Stern, war er ihm schließlich doch mit den Schlägen der Sklaventreiber ausgelöscht worden.  Doch das Herz des jungen Königs kannte keine Bitternis, wenn auch seine Haut vertrocknet war, seine Wunden ihn viele Beschwerden verursachten und sein Haar grau geworden war, so konnte doch jeder in seinem schmalen Gesicht sehen, wie in ihm ein Stern strahlte.

      Ein weiser Mensch war auf diesen jungen Sklaven aufmerksam geworden und schenkte ihm schließlich die Freiheit.  Eine Fischerfamilie am Strand der Hafenstadt nahm ihn über Nacht bei sich auf und versorgte ihn, so gut sie konnten.

       Und in dieser Nacht träumte er von seinem Stern, dem zu folgen er als junger Mann ausgezogen war. Und eine Stimme rief ihm im Traum zu: "BEEILE DICH, Beeile Dich!"
      Kaum war er erwacht, brach er noch in der selben Stunde auf und - o Wunder - als er wieder in die Nacht hineinschritt, siehe, da leuchtete wieder vor ihm sein Stern und sein Glanz war rot wie die Sonne am Abend zuvor.  Und er beeilte sich und kam an die Tore einer großen Stadt.  In ihren Straßen war lärmendes Treiben.  Aufgeregte Gruppen von Menschen standen zusammen, und immer wieder tauchten Soldaten auf, die sie zum Weitergehen auseinanderscheuchten.  Viele zogen hinaus vor die Mauern.  Und dieser Menschenstrom riß auch ihn mit - er wußte nicht wie - dumpfe Angst beengte ihm die Brust.  - Einen Hügel schritt er hinauf.  Und da sah er sie, die drei Pfähle, wegen den vielen Menschen sah es aus, als hingen diese drei Pfähle zwischen Himmel und Erde.  Aber was sollten sie dort?

      Und da sah er ihn auch wieder, seinen Stern, genau über dem mittleren Pfahl war er stehen geblieben und er leuchtete noch einmal hell auf - und es war ihm, als schrie der Stern - und dann war er erloschen!

      Da traf ihn der Blick dieses Menschen, der da am Pfahl hing.  - Alles Leid, alle Qual der Erde mußte dieser Mensch in sich gesogen haben, so war dieser Blick.  Aber auch alle Güte und eine grenzenlose Liebe atmete aus seiner Gestalt, die noch in der Entstellung des Schmerzes schön und voller Würde war.  Seine Hände waren wegen der Nägel in den Handgelenken gekrümmt und doch leuchtete es wie ein Strahlen aus diesen Händen, wie eine geheimnisvolle Kraft, die von dort ausginge.

      Und wie ein Blitz durchbebete den König die Erkenntnis: Dieser ist der König der Menschen.  Das ist Gott!, der Heiland der Welt, den ich gesucht habe.  Er ist mir längst begegnet auf meinem Weg hierher.  Er ist mir begegnet in all den Menschen unterwegs, - in den Hilflosen - in den Armen - in den Überforderten - in den Gequälten

      Und er sank unter dem Kreuz zusammen. Was hatte er diesem König nun noch zu bringen?  Nichts!  Und er zeigte seinem König seine leeren Hände; und in diese leeren Hände fielen drei Tropfen Blut, dunkelrot und sie leuchteten ihm mehr als jeder Edelstein.  Und ein Schrei durchbebte die Luft - und der König starb.

nach einer russischen Legende in leichter erzählbarerer Form aufgeschrieben
- diese Legende gibt es ohnehin in diversen Versionen

Jan.1990 prüßner